Ein paar Aufgaben traut man mir mittlerweile zu, obwohl ich immer noch kaum etwas verstehe. Irgendetwas sagt mir aber, dass das noch nicht alles sein kann. Ich bin mir sicher, dass noch ein Haufen Arbeit auf mich wartet.
Hier ist mein Tagesplan, zumindest so, wie er eigentlich aussehen sollte. Ich verstehe dieses System hier, wenn es eins gibt, überhaupt nicht, und komme mir regelmäßig überflüssig vor, wenn meine Aufgabe bereits erledigt ist oder aus mir unerfindlichen Gründen ausfällt. Dabei bin ich absolut pünktlich. Versteh das einer.
5:40 Uhr Aufstehen, Zähne putzen und waschen, soweit Wasser vorhanden ist. Sonst muss das auf später verschoben werden, wenn ich Zeit finde, der Pumpe zwei Felder weiter einen Besuch abzustatten. In diesem Fall begnüge ich mich mit Zahnpflegekaugummis und Babyfeuchttüchern – ein Hoch auf deren Erfinder!!
5:48 Uhr Ich bin selbst jeden Morgen erstaunt, wie schnell ich im Badezimmer fertig bin. Allerdings ist das hier auch kein Ort, an dem man lange verweilen möchte.
Ich mache mich auf meinen Weg und schlage die Tür mit einem Kreischen zu, wenn schon wieder ein Frosch Einlass erbittet (Nein, du kommst hier nciht rein!), stolpere über eine der dreihundert Katzen und gehe schimpfend weiter in Richtung Glocke, um dort meines Amtes zu walten.
Im Grunde sollten die Kinder dadurch geweckt werden, so habe ich es zumindest verstanden. Und doch muss ich immer wieder mit einem leichten Grummeln feststellen, dass schon alle auf sind und mir bereits geduscht entgegenkommen. Ich bin ja wirklich sehr leichtgläubig, aber mir kann einfach keiner weiß machen, dass die Kinder hier gerne früh aufstehen!
5:50 Uhr Ich lasse mir den Spaß nicht nehmen und mache ordentlich Radau, indem ich den Eisenstab mit einem ordentlichen Krawumms gegen den Eisenring alias Glocke knalle, wobei ich versuche, so fest zuzuschlagen, dass mein Schimpfdrang abnimmt.
Für Gewöhnlich mache ich mich dann auf zu den Schlafsäalen, um nachzugucken, ob auch wirklich alle wach sind. Und für Gewöhnlich werde ich dann von einem “Got morrning missss” begrüßt. Ich habe wirklich lange dafür gebraucht, um zu verstehen, was man mir jetzt schon wieder an den Kopf knallt. Die Aussprache englischer Wörter ist einfach grausig – vermutlich weil man es hier einfach nicht gewöhnt ist, einen s-Laut zu formen. Trotzdem sind alle furchtbar stolz auf sich, wenn sie mit ihrer Meinung nach englisch klingenden Wörtern um sich schmeißen können.
Nach dem morgendlichen spanischen Vaterunser laufe ich noch ein bisschen planlos über das Gelände und beobachte Kinder bei ihren Aufgaben. Mittlerweile habe ich nämlich spitz bekommen, dass sie bereits vor dem Frühstück Oficios, also Pflichten, haben. Deshalb tapse ich ein wenig unentschlossen hin und her, gucke zu und versuche mir einen Reim auf die bolivianischen Gesetzmäßigkeiten des Arbeitens zu machen. Anfangs habe ich noch die Kinder, die einfach nur rumsaßen, gefragt, ob sie nicht auch Oficios hätten. Aber das habe ich aufgegeben. Ich kenne gerade mal ein Dreiviertel aller Namen und die Kinder wissen genau, dass sie mir einen vom Pferd erzählen können, weil ich sowieso nichts verstehe.
6.30 Uhr Ich bin wieder in meinem Zimmer und versuche, mich mental auf den Tag vorzubereiten, mir Mut zu machen und das Heimweh zu unterdrücken. Wenn ich Glück habe, schlafe ich darüber ein, ansonsten ergieße ich mich in Schimpftiraden.
7.00 Uhr Ich darf wieder Krach machen, denn es gibt Frühstück.
Meistens habe ich mich bis dahin wieder beruhigt und nehme meinen Platz an der Durchreiche zur Küche ein, wo die Kinder ihr Brot und ihren Kakao bekommen.
Größtenteils benehmen sie sich, es ist aber auch schon vorgekommen, dass hier und da Brot geklaut wird. Und da versteht man hier gar keinen Spaß! Natürlich, es ist nicht viel, was die Kinder zu essen bekommen. Ein kleines trockenes Brot, das ich “Plättchen” genannt habe, weil es wie ein plattgedrücktes Brötchen aussieht, und Kakao, der übrigens nicht so schmeckt wie in Deutschland. Er wird hier mit Wasser angerührt, Milch habe ich hier noch nirgends gesehen. Und zusätzlich landet eine ganze Packung Zucker im Kakaokessel, das habe ich mit eigenen Augen gesehen, ansonsten hätte ich es wahrscheinlich selbst nicht glauben können. Es muss fürchterlich süß schmecken, wie alles andere auch.
Es gibt hier eine Ecke Jungen, die sich sprichwörtlich wie die Axt im Walde verhalten. Knigge wie in Deutschland findet man hier sowieso nicht, das habe ich relativ schnell verstanden. Aber diese Gruppe halbstarker 10 Jähriger hat es darauf abgesehen, jeden Morgen mindestens eine Sache zu zertrümmern. Sei es ein Becher, eine Schüssel oder das T-shirt des Gegenüber. Dass sie sich noch nicht die Köpfe eingeschlagen haben, ist mehr als verwunderlich.
Nach diesem Jahr muss ich vermutlich noch mal durch Omas gute Schule, bevor ich mich in einen deutschen Mc Donalds traue. :D
7.30 Uhr Mein Frühstück. Ich esse nicht mit den Kindern im Speisesaal, sondern in der kleinen Küche, wo auch die anderen Angestellten ihre Mahlzeiten einnehmen. Und darüber bin ich auch ganz froh. Ich habe zwar vor, vor keinem Essen hier zurückzuschrecken und wenn doch, dann so, dass es keiner bemerkt. Aber den Zucker-Wasser-Kakao muss ich wirklich nicht trinken.
Für mich gibt es natürlich mehr als ein Plättchen. Andererseits habe ich ein schlechtes Gewissen, immerhin bin ich nicht diejenige, die Nachmittags auf dem Feld schufften muss.
Ab jetzt habe ich offiziell frei, bis dass die Kinder aus der Schule kommen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass ich nichts zu hätte.
Ich kann zum Beispiel mein Zimmer putzen (eine Neurose, die mehr zu- als abgenommen hat seitdem ich hier bin), Mücken oder Frösche jagen, ein bisschen über mich selbst schimpfen, Wasser von 2 Felder weiter holen oder mich über ein täglich neues Dutzend Mückenstiche ärgern. Vielleicht wirkt das Anti-Mückenspray ja in Chile oder Peru, hier macht es nicht den geingsten Eindruck auf die Biester. Weiterhin kann ich Wäsche waschen oder neue Vokabeln lernen- Dschungelisch natürlich, in meinem Wörterbuch sind diese Ausdrücke nicht zu finden.
Wenn ich dann noch Zeit habe, kann ich Musik hören, lesen (Danke an alle meine Vorgängerinnen, die Bücher hiergelassen haben!) oder Tagebuch schreiben. Es ist filmreif! Neben meinem Glossar an Neologismen enthält es meine ganzen Assoziationen und Theorien, die diesen Ort betreffen. Von daher sorge ich für mein persönliches Amusement selbst, indem ich meine eigene Comedy schreibe.
Ich könnte mich auch zu einer der Donas setzen, aber Gesellschaft ist im Augenblick nicht das, was ich brauche. Zumindest nicht, wenn ich eh kein Wort verstehe.
12.20 Uhr Vor meinem Fenster erhebt sich ohrenbetäubender Lärm und sagt mir, dass 50 Kinder aus der Schule kommen und Hunger haben. Also statte ich Dona Maria einen Besuch in der Küche ab, um zu sehen, wie weit das Essen ist. Danach wäre es eigentlich meine Aufgabe, wieder Krach zu machen, aber oft ist das bereits erledigt, wenn ich losgehe.
Also begebe ich mich in den Speisesaal und das Frühstücksszenario wiederholt sich. Allerdings gibt es jetzt statt Kakao und Brot Wasser und Hühnerbeinsuppe, gefolgt vom Hauptmenü Reis mit Fleischstücken, über deren Ursprungsort ich mir lieber keine Gedanken mache.
13.00 Uhr Mein Mittagessen. Meistens habe ich Glück und bin allein, sodass es niemandem auffällt, dass ich mich um die Hühnerbeine in der Supper herummogele.
Dann kurz abspülen mit der Hand. Kein Thema....nur leider wird es nicht so sauber wie zu Hause. Aber darauf hatte ich mich eingestellt und versuche, mich selbst auszutricksen, indem ich mir das Spülwasser nicht so genau anschaue. Diese Strategie klappt auch wirklich hervorragend gut.
14.00 Uhr Estudio. Die Kinder versammeln sich alle im Sala de Estudio, um dort ihre Hausaufgaben zu erledigen. Ich vermute mal ganz stark, dass es an mir wäre, sie dabei zu kontrollieren. Aber wie bereits erwähnt habe ich nicht die geringste Chance, solange ich nicht verstehe, was sie sich in ihren nich vorhandenen Bart nuscheln. Und den Schwestern hier ist es ebenso recht, dass sie sich die Zeit mit Kartenspielen oder malen vertreiben. Also werde ich mich da nicht einmischen. Vor allem, weil ich (noch) kein Gespür dafür habe, was auch nach bolivianischen Maßstäben “zu laut” “zu dreckig” oder “zu falsch” ist.
Das Schulsystem hier hinterfrage ich ein bisschen. Ich hatte nicht erwartet, dass es wie zu Hause sein würde. Aber trotzdem war ich letztens leicht shockiert. Ich saß neben einem der kleinsetn Jungen und habe durch sein Schönschreibheft geblättert, das einen relativ zerfledderten und bematschten Eindruck gemacht hat. Er war gerade dabei, Additionsaufgaben mit Hunderterübergängen zu lösen, weshalb ich seine Verzweiflung durchaus verstehen konnte. Mathe ist nun wirklich nicht meine größte Begabung. Trotzdem hat er mich gefragt, ob ich ihm helfe. Na, was solls, das konnte schon nicht so schwer werden. Die 2. Klasse würde ich ja wohl hinkriegen. Doch musste ich feststellen, dass er noch nicht mal weiß, wie viele Finger an einer Hand sind und mit zwei Händen schlicht überfordert ist. Wie sollte er dann bitte Additionen über 100 durchführen? Mit ganz viel Fingerabzählen und Vorsagen, haben wir es dann irgendwann geschafft und am Ende war ich genauso erledigt wie er.
16.00 Uhr Oficios. Der morgendliche Vorgang wiederholt sich. Ich laufe wieder ein bisschen durch die Gegend mit der nicht ganz überzeugten Hoffnung, das System an diesem Ort eines Tages zu verstehen.
So viel, wie ich verstanden habe - und es hat mich wirklich lange gekostet, ehe ich eine rationale Theorie erstellen konnte – sind die Kinder in Gruppen eingeteilt, die jeweils von einem größeren Kind geleitet werden sollen. Ein Teil der Gruppe muss die Oficios morgens erledigen, der andere Teil das Gleiche nochmal am Nachmittag. Soweit die Idee dahinter. Praktisch klappt das nämlich nicht ganz.
Oficios sind zum Beispiel Wege fegen, Gemüsegarten (er-)tränken, Templo fegen, Brot backen, Sala de Estudio fegen, in der Küche helfen, Müll aufsammeln, Duschen und Bäder putzen.
Die großen Jungs müssen zudem in den Chaco, so nennen sie hier das umliegende Feld plus Wald, um dort Wege mit der Machete freizuschlagen oder Holz zu machen. Ich habe sie schon zwei mal begleitet, eine Machete wollten sie mir allerdings nicht geben. Wahrscheinlich auch besser für meine eigene Gesundheit. Obwohl der Verlust vom großen Zeh mich bestimmt wieder nach Hause bringen würde... – Na, so verzweifelt bin ich zum Glück noch nicht. :D
17.00 Uhr Ich mache wieder Krach und rufe zur “Merienda”, einer Art Vesper, bei der jedes Kind ein Tütchen mir Keksen bekommt, die sogar richtig lecker sind. Und diese Aufgabe hat mir bisher noch keiner weggenommen, worauf ich richtig stolz bin.
Die Kekse sind ein optimales Druckmittel. Den Kindern schmeckt das Essen hier ebensowenig wie mir und deshalb verschmähen sie es regelmäßig am Mittagstisch und schieben jetzt natürlich Kohldampf. Und so frage ich immer “hast du dein Oficio gemacht?”, bevor ich ihnen ihre Kekse aushändige. Allerdings können sie mich auch hier wieder übers Ohr hauen. Indem sie mir ganz dreist ins Gesicht lügen oder mir verklickern wollen, dass sie der andere Bryan oder die andere Maria seien und das Wegefegen nicht ihre Aufgabe sei.
Naja, immerhin versuche ich es und zeige Engagement.
Bis zum Abendessen ist freier Nachmittag, den die Kinder dazu nutzen, um in brütender Hitze Fußball zu spielen oder um gemeinsam zur Pumpe zu trotten, um dort zu waschen. Dabei verwandeln sie den sonst so trockenen Boden in eine einzige Sumpflandschaft, die sich über den Umkreis von 3 Meternerstreckt. Wenn man dann nicht aufpasst und mit geübten Tritten auf die Ziegelsteine zielt, steckt man fest. So wie ich beim ersten Mal, was bei den Kindern zur allgemeinen Erheiterung führte, während die Bryans und Marias mir helfen mussten.
Zum Fußball- oder Basketballspielen kann ich nur sagen.. – verflixt schnell und verflixt klein diese Bolivianer! Sie dribbeln quasi durch meinen Beinem hindurch. Am Ende der ersten Runde war ich puterrot im Gesicht und habe nur noch nach Wasser gelechzt. Die Hitze verursacht schon bei normalen Bewegungsabläufen Kopfschmerzen, wenn ich zusätzlich noch versuche, mich sportlich zu betätigen, habe ich ganz verloren. Zu den Kindern meinte ich deshalb, dass ich wieder mitspielen würde, wenn es kühler ist. Hehe, darauf können sie lange warten! :D
Deshalb sitze ich jetzt immer im Schatten und erzähle mit einer kleinen Gruppe ebenfalls fauler Geschöpfe. Ich berichte von Deutschland, sie erzählen mir ihre Geschichten. Und dann weiß ich nie, was mich trauriger macht. Dass ich hier in der Pampa sitze, während es zu Hause so schön ist oder dass so junge Menschen schon so viele schlimme Dinge zu erzählen haben.
Und dann wollen sie natürlich auch Englisch lernen. Doch dafür sehe ich definitiv schwarz. Das hängt nicht nur mit ihrer schrecklichen Aussprache zusammen, sondern auch mit dem hier nicht vorhandenen Sprachgefühl. Deshalb übersetze ich mit ihnen Justin-Bieber-Songtexte (auch hier ein Star...). Nunca diga nunca, never say never. J
19.00 Uhr Krach von mir (oder auch nicht), Abendbrot von der Köchin.
Jetzt ist es meist richtig laut und ich muss “Rambo” (seinen richtigen Namen kenne ich nicht) mehrmals zu seinem Platz begleiten, wenn er sich mal wieder mit irgendwem in den Haaren liegt.
¿Giulia, jugar? Schwer zu ignorieren und irgendwann wird aus der Frage, ob wir spielen, ein Befehl. Also rufe ich beim “kotzenden Känguru” Befehle durch die Gegend und blinzle mir bei “Parpardear” die Augen müde. Nach einem Abendgebet werde ich aus meinem Dienst entlassen und gehe dankbaren auf mein Zimmer.
Endlich kann ich nutzloses Mückenzug und Schmutz abwaschen – vorrausgesetzt, von meinem Wasser ist noch was da, sonst muss ich mich mit Babyfeuchttüchern abseifen. Erschlagen vom ganzen Krach, den Bemühungen, etwas zu verstehen und vor allem vom Schimpfen über mich selbst und meinen tollen Bolivienplan krabbel ich unter mein Moskitonetz. Ich krabbel noch einmal heraus, streiche einen weitern Tag auf meinem Kalender durch, pfropfe mir die Ohren mit Ohropax zu und schlafe mit dem Gedanken an zu Hause ein.
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